9. November 2013: Verlorene Nachbarschaft, Wien

Mit dem Projekt „Verlorene Nachbarschaft“ begeben sich Bewohner aus der Neudeggergasse im achten Bezirk seit fünfzehn Jahren auf Spurensuche

Die Initiative „Verlorene Nachbarschaft“, die auf eine Privatinitiative der beiden Bewohner der Neudeggergasse, der Filmemacherin Käthe Kratz und Hans Litsauer zurückgeht, widmet sich seit 1998 mit besonderer Aufmerksamkeit den Juden im Viertel rund um die zerstörte Synagoge in der Neudeggergasse. Im Mittelpunkt steht die Suche nach verlorenen Beziehungen, Lebensgeschichten, Erinnerungen und Schicksalen der Verfolgten. Bei diversen Gedenkprojekten wird immer wieder an die zur Emigration gezwungenen Nachbarn erinnert

Nach einer sechswöchigen Veranstaltungsreihe 1998 in Wien und dem Gedenkprojekt 2008 in Buenos Aires erinnert der Verein „Betrifft: Neudeggergasse“ anlässlich des 75. Jahrestags der Pogromnacht an die damals vertriebenen und an die vielen in der Folge ermordeten Mitmenschen:

Während der Novemberpogrome 1938 wurden in Wien fast alle Synagogen zerstört und tausende Juden vertrieben. Am 75. Jahrestag des Pogroms, gibt es diesen November wieder eine Veranstaltung zur „Verlorenen Nachbarschaft“. Diesmal dauert sie nicht mehrere Wochen, sondern nur einige Stunden. Man gedenkt nicht mehr nur der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus, sondern auch anderer verfolgter Gruppen: Roma, Sinti, Homosexuelle, politisch Verfolgte. „Solange noch Leute leben, denen es ein Anliegen ist und die betroffen sind, oder Leute, denen das Thema so unangenehm ist, dass sie es mit lauter Stimme abwehren, ist es ohne Zweifel notwendig, an dieser Erinnerung zu arbeiten“, sagt Alexander Litsauer. Auch ein Schulworkshop ist geplant, in einem Gymnasium am Schuhmeierplatz. Es ist das Gymnasium mit dem höchsten Anteil an Kindern mit Migrationshintergrund in Wien, die Kinder fragen sich: „Was hat dieses Thema mit mir zu tun?“ Für Hans und Alexander Litsauer liegt die Antwort in den persönlichen Geschichten, die sie durch die Projekte von „Verlorene Nachbarschaft“ zu hören bekommen haben.

Wir wollen an diesem Abend einen weiteren Beitrag leisten, die schrecklichen Ereignisse, die als eines der dunkelsten Kapitel der Menschheit in die Geschichtsbücher eingegangen sind, angemessen aufzuarbeiten, um nicht nur unseren ehemaligen NachbarInnen und den anderen Überlebenden des Holocaust, sondern vor allem auch deren Nachfahren, den vielen Töchtern, Söhnen und Enkeln zu zeigen, dass es bei uns ein Bewusstsein über das erlittene Unrecht und eine Kontinuität der Erinnerung gibt.

Kritik:

Die Gedenkveranstaltung am Samstagabend wurde von einem hochkarätigen Kulturprogramm begleitet. Stefan Horvath, Armin Zitter und Hannes Sulzenbacher erzählten über die Verfolgung von Minderheiten und politisch Andersdenkenden in der NS-Zeit. Die Schauspieler Ruth Brauer-Kvam, Inge Maux und Erwin Steinhauer rundeten, unter Mitwirkung von Kyrre Kvam und Aliosha Biz, die Veranstaltung musikalisch ab.Die Moderation der Gedenkveranstaltung übernahmen unter anderem Schüler des Bundesrealgymnasiums Wien XVI, jener höheren Schule mit dem nach eigenen Angaben höchsten Anteil an Schülern mit nicht-deutscher Muttersprache in Wien. Es werde nun auch jenen Opfern der NS-Zeit gedacht, die lange auf ihr Recht auf Anerkennung warten mussten – „den Roma, Sinti, Homosexuellen, Kärntner Slowenen, den Zeugen Jehovas, den Jenischen oder politisch anders Denkenden, den Widerstandskämpfern und vielen anderen, die lange geschwiegen haben, aus Angst, um nicht aufzufallen oder aus Scham“.Auch heute gelte es, stets wachsam zu sein und das „Überschreiten moralischer Grenzen zu erkennen“. Wir alle seien immer wieder gefordert, „antisemitische oder rassistische Äußerungen und Handlungen mit gebotener Eindeutigkeit zu verurteilen“ und für nachfolgende Generationen das „Nie wieder“ der Nachkriegsgenerationen zu sichern. Aus diesem Grund seien Initiativen wie das Projekt „Verlorene Nachbarschaft“ von Bedeutung. „Nur im Verstehen unserer Geschichte und in der Auseinandersetzung mit diesem Teil unserer Vergangenheit können wir für die Gegenwart unsere gemeinsamen Werte wie Menschenrechte und Demokratie schützen und weiter ausbauen“. Für das „Wegsehen“ in der heutigen Zeit fehle jedes Verständnis.

Mitwirkende:

Maria Bill, Inge Maux, Aliosha Biz, Krzysztof Dobrek, Georg Graf, Michael Hornek, Stefan Horvath, Joe Pinkl, Peter Rosmanith, Erwin Steinhauer, Armin Zitter und die SchülerInnen der 8B des BRG16.